Zwangsstörung

Merkmale

Das Hauptmerkmal der Zwangsstörung sind sich stereotyp wiederholende Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen, die für den Betroffenen sehr zeitintensiv sind, Leiden verursachen und die normale Lebensführung beeinträchtigen. Personen mit einer Zwangsstörung sind sich darüber im Klaren, dass die Gedanken oder Handlungen übertrieben und unbegründet sind. Bei Kindern muss dies nicht der Fall sein.

Zwangsgedanken sind Ideen, Impulse oder Vorstellungen, die sich dem Betroffenen immer wieder aufdrängen und die er als unangemessen und abstoßend (ich-dyston) empfindet. Der Betroffene hat keine Kontrolle über die Gedanken und empfindet sie als aufdringlich und quälend. Er erkennt jedoch, dass es seine eigenen Gedanken sind und nicht „von außen“, z.B. durch andere Personen oder übernatürliche Kräfte, eingegeben werden (dieses Gefühl der Gedankeneingebung findet sich z.B. bei schizophrenen Störungen).

Die Ideen, Vorstellungen oder Impulse einer Zwangsstörung können beispielsweise folgende Inhalte haben:

  • aggressive Gedanken oder Impulse (z.B. das eigene Kind zu verletzen)
  • Gedanken krank zu sein
  • Gedanken sich zu beschmutzen oder mit einer Krankheit anzustecken
  • dauernde und unlösbare Zweifel etwas getan oder unterlassen zu haben (z.B. jemanden verletzt oder beleidigt zu haben; den Herd ausgeschaltet zu haben)
  • Vorstellungen vom Tod oder anderen schlimmen Ereignissen
  • das Bedürfnis, Dinge in einer ganz bestimmten Ordnung zu haben
  • obszöne Gedanken (z.B. eine sich aufdrängende, wiederkehrende sexuelle Vorstellung)

Bei mehr als der Hälfte der Betroffenen mit einer Zwangsstörung treten mehrere unterschiedliche Inhalte auf. Die Zwangsgedanken haben meist nichts mit realen Lebensproblemen zu tun und gehen über ausgeprägte Sorgen, wie z.B. über die Arbeit, Finanzen oder die Familie, hinaus. Manchmal bestehen die Gedanken aus endlosen Überlegungen und Grübeleien, die es den Betroffenen unmöglich machen, tagtägliche Entscheidungen zu treffen. Der Versuch die Gedanken, Impulse oder Vorstellungen der Zwangsstörung zu unterdrücken oder sie zu ignorieren, misslingt in der Regel.

Oft versuchen Betroffene ihre Zwangsgedanken mit anderen Gedanken oder Handlungen zu neutralisieren. Zum Beispiel wird eine Person, die ständig daran zweifelt, ob sie die Türe zugesperrt hat, auch immer wieder prüfen, ob die Türe wirklich verschlossen ist. Hier zeigt sich der enge Zusammenhang zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Aggressive Impulse lösen beim Betroffenen meist intensive Angst davor aus, dem Impuls tatsächlich nachzugeben, also beispielsweise sein eigenes Kind zu verletzen. Die Gefahr der Ausführung ist jedoch sehr gering, so dass eingreifende Maßnahmen, wie z.B. die Unterbringung in einer geschlossenen Station, so gut wie nie notwendig sind.

Zwangshandlungen sind Verhaltensweisen oder auch geistige Handlungen, die immer wieder auf die gleiche Art und Weise ausgeführt werden, als unangenehm empfunden werden und auch keinen sinnvollen Zeck erfüllen. Zwangshandlungen oder -rituale können beispielsweise folgende sein:

  • Dinge im Haushalt kontrollieren (z.B. ob die Türe zugeschlossen oder der Herd ausgeschaltet ist)
  • Sachen ordnen oder nachzählen
  • Schmutz beseitigen oder sich waschen
  • Dinge sammeln oder den Müll durchsehen bevor er weggeworfen wird
  • Routinehandlungen so oft wiederholen, bis es sich „richtig“ anfühlt (z.B. durch eine Türe gehen oder sich hinsetzen)
  • bestimmte Farben, Nummern oder Namen vermeiden, weil sie mit negativen Ereignissen oder Gedanken assoziiert sind
  • Dinge oder Menschen berühren
  • Briefe unbegründet wiederholt lesen oder wiederholt neu schreiben bevor sie abgeschickt werden
  • den eigenen Körper nach Krankheitszeichen untersuchen
  • das Bedürfnis, ständig etwas beichten zu müssen oder sich bei anderen zu vergewissern, dass man alles richtig gemacht hat

Bei der Hälfte der Betroffenen treten mehrere Zwangshandlungen parallel auf. Betroffene führen die Handlungen oft als Vorbeugung gegen ein befürchtetes Ereignis oder eine möglicherweise gefährliche Situation aus bzw. um die psychische Belastung, die mit den Zwangsgedanken einhergeht, kurzfristig zu reduzieren. Das Ritual kann also als symbolischer Versuch gewertet werden, die befürchtete Gefahr abzuwenden. Beim Versuch die Handlung zu unterlassen, tritt eine massive innere Anspannung und Angst auf. Nachdem die Zwangshandlung ausgeführt wurde, ist der Betroffene für kurze Zeit beruhigt und erleichtert. Eine Person, die der Zwangsgedanke plagt, beschmutzt zu sein, wird beispielsweise die quälende innere Anspannung reduzieren, indem sie sich immer wieder die Hände wäscht. Diese Handlungen sind entweder deutlich übertrieben oder stehen in keinem sinnvollen Zusammenhang zu dem, was dadurch neutralisiert werden soll (z.B. wenn ein Betroffener für jeden obszönen Gedanken als Neutralisation hundert Mal bis 10 rückwärts und vorwärts zählt).

Die Einsicht bei einer Zwangsstörung, dass die Gedanken oder Handlungen sinnlos und übertrieben sind, kann je nach Situation und über die Zeit hinweg schwanken. In Zeiten, in denen der Betroffene die Sinnlosigkeit erkennt, versucht er dagegen anzugehen und Widerstand zu leisten. Die innere Anspannung nimmt dann jedoch soweit zu, bis der Betroffene dem Druck nachgibt und die Zwangshandlungen erneut ausführt. Wenn die Zwangsstörung schon lange andauert, kann der Widerstand bereits sehr gering sein und die Handlungen sind in die tägliche Routine integriert. Zwangshandlungen können vom Betroffenen täglich stundenlang in Form von komplexen Ritualen ausgeführt werden. Häufig lässt sich eine ausgeprägte Unentschlossenheit und Langsamkeit beobachten.

Um eine Diagnose rechtfertigen zu können, müssen die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen den Betroffenen stark belasten, sehr zeitaufwändig sein oder den Betroffenen in seiner täglichen Lebensführung oder beruflichen und sozialen Funktionsfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Personen mit einer Zwangsstörung vermeiden meist bestimmte Orte oder Situationen, die mit den Zwangsgedanken in Zusammenhang stehen, z.B. vermeidet eine Person mit dem Zwangsgedanken sich zu beschmutzen öffentliche Toiletten, Türgriffe oder Händeschütteln. Das Vermeidungsverhalten kann so stark werden, dass der Betroffene das Haus nicht mehr verlässt. Zwangsstörungen haben die Tendenz sich auszubreiten und können zum hauptsächlichen Lebensinhalt des Betroffenen werden, der sein gesamtes Denken, Handeln und soziales Verhalten beeinflusst.

Darüber hinaus können bei einer Zwangsstörung vermehrte Arztbesuche (aufgrund von hypochondrischen Sorgen), Schuldgefühle und Schlafstörungen auftreten. Nicht selten liegt ein Missbrauch von Alkohol und Medikamenten vor. Bei Erwachsenen kann eine Zwangsstörung mit einer Depression, einer anderen Angststörung (am häufigsten spezifische Phobie oder soziale Phobie), einigen Persönlichkeitsstörungen (wie z.B. zwanghafte Persönlichkeitsstörungabhängige Persönlichkeitsstörung oder ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung) und Essstörungen einhergehen. Bei Kindern kann eine Zwangsstörung in Kombination mit Lernstörungen oder Störungen des Sozialverhaltens auftreten. Häufig tritt bei Personen, die an einer Tourette-Störung leiden, zusätzlich eine Zwangsstörung auf.

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Verlauf

Eine Zwangsstörung kann bereits in der Kindheit beginnen, üblicherweise tritt sie jedoch erst in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter auf. Männer erkranken im Schnitt früher (zwischen dem 6. und 15. Lebensjahr) als Frauen (zwischen dem 20. und 29. Lebensjahr). Nach dem 35. Lebensjahr erkrankt nur noch ein geringer Prozentsatz an einer Zwangsstörung. Der Beginn der Symptomatik ist meist schleichend und im weiteren Verlauf chronisch. Die Schwere der Symptomatik kann jedoch stark schwanken und sich mit dem Auftreten weiterer Belastungsfaktoren verschlechtern.

Häufige Folgen einer Zwangsstörung sind ein sozialer Rückzug und eine soziale Isolierung des Betroffenen, sowie eventuell körperliche Schäden (z.B. bei einem Waschzwang). Die Symptomatik kann so ausgeprägt sein, dass der Betroffene einen Suizid als einzigen Ausweg sieht. Die Prognose der Zwangsstörung hat sich jedoch durch neue Behandlungsstrategien erheblich gebessert, sodass eine deutliche Verminderung des Leidensdrucks und bessere Bewältigungsmöglichkeiten erreicht werden können.

Zahlen

Die Wahrscheinlichkeit im Laufe des Lebens an einer Zwangsstörung zu erkranken beträgt zwischen 1% und 2,5%. Einzelne Zwangssymptome finden sich bei 8% der Normalbevölkerung. Die Prävalenz der Zwangsstörung unterscheidet sich in Asien, Amerika und Europa kaum voneinander. Männer und Frauen sind in etwa gleich häufig betroffen.

Subtypen

Bei Zwangsstörungen werden keine Subtypen unterschieden.

Therapie

Bei der Behandlung einer Zwangsstörung werden bevorzugt verhaltenstherapeutische Methoden eingesetzt. Zunächst werden die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen und die Situationen, in denen sie auftreten, genau analysiert. Beim Vorliegen von Zwangshandlungen werden daraufhin Expositions- bzw. Konfrontationstechniken angewendet.

Bei der Expositions- bzw. Konfrontationstherapie wird der Patient angeleitet sich gezielt der angstauslösenden Situation auszusetzen und dabei aufkommenden Zwangshandlungen zu widerstehen. Ziel dieser Vorgehensweise ist die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Angst und den entsprechenden Gedanken der Zwangsstörung und folglich die Erkenntnis, dass in den angstbesetzten Situationen keine ernsthafte Bedrohung besteht. Wichtig ist hierbei ein stufenweises Vorgehen, bei dem mit der Situation begonnen wird, die für den Betroffenen am wenigsten belastend ist und dann Schritt für Schritt problematischere Bedingungen der Zwangsstörung bearbeitet werden.

In Kombination mit verhaltenstherapeutischen Methoden werden häufig Entspannungsverfahren bei Zwangsstörungen verwendet, da der Zustand der Entspannung Angstgefühle ausschließt. Die bekanntesten Verfahren sind die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, das Autogene Training, sowie Biofeedback.

Bei Zwangsgedanken wird meist mit kognitiven Verfahren gearbeitet. Der Patient soll im Laufe der Therapie seine irrationalen Gedanken und seine Einstellung zur Zwangsthematik kennenlernen und verändern. Zunächst muss der Patient lernen seine Zwangssymptome als solche zu erkennen und nicht mit einer potenziellen Gefahr in Verbindung zu bringen. So kann es dem Patienten gelingen sich von seinen eigenen Befürchtungen zu distanzieren und den Handlungsausführungen Widerstand zu leisten. Eine weitere Technik bei Zwangsgedanken ist der sogenannte „Gedanken-Stopp“. Dabei soll der Patient jedes Mal, wenn ein Zwangsgedanke auftritt, sich das Wort „Stopp“ vorstellen oder aussprechen, um so den aufdringlichen Gedanken zu unterdrücken. Bei diesen verhaltenstherapeutischen Verfahren ist es sehr wichtig die Bezugspersonen des Betroffenen miteinzubeziehen, um einer sozialen Isolierung entgegenzuwirken.

In einer tiefenpsychologisch orientierten Therapie versucht der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten herauszufinden, welcher unbewusste Konflikt der Zwangssymptomatik zugrunde liegt. Häufig lässt sich bei Patienten mit einer Zwangsstörung ein Konflikt zwischen der „Hypermoralität“ des Gewissens und seinen als antisozial erlebten Triebwünschen finden. Es kann jedoch auch bei den aufdeckenden Verfahren zunächst wichtig sein, die Bewältigungsmöglichkeiten des Patienten zu stärken, bevor die zugrundeliegenden Konflikte der Zwangsstörung bearbeitet werden. Eine tiefenpsychologische Therapie dauert in der Regel länger als eine Verhaltenstherapie. Sie wird bis zu mehreren Jahren, kontinuierlich angewendet.

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